Pizza-Inferno in Bitterfeld

Die größte Trinkerhorde des Elchlandes auf Klassenfahrt. Warm-up in Paris. Das übliche Spiel: Der Abend endet auf der Wache. Nix Neues für Jörgen Sandström. Der "Neue" rockt seit sieben Jahren mit den heißesten Höllenhunden Stockholms. Er mag es wild, laut und heftig. Und ENTOMBED wissen schon recht lange, wie so was geht. Daher verwundert es kaum, dass ein paar Tage später die nächste Party bereits generalstabsmäßig geplant ist. Das With Full Force X bot mal wieder die beste Gelegenheit, richtig die Sau rauszulassen. Da passt "Inferno", der Titel des neuen Albums, wie die metallische Faust aufs Auge.

Gruppentermin um fünf. Eigentlich mit allen, aber alle können gerade nicht. Nicht weil sie unhöflich wären, nein, alles andere als das, aber halt ziemlich betrunken. Jörgen nicht. Der Hüne verträgt was. Seine Heimat Gotland und seine Band Grave haben ihm eine Panzerleber verpasst. Nicht schlecht, besonders im Nahkampf. 80 Prozent der Band sind 45 Minuten nach dem Auftritt kampfunfähig. Jörgen hingegen ist völlig fit und bester Dinge.
»ENTOMBED und St. Vitus an einem Abend auf derselben Bühne - ich fiebere dem Auftritt seit Wochen total entgegen!«

Sein Grinsen in Tüten verpackt, würde in der Region bestimmt der Renner werden. Zu Lachen gibt´s hier, im Dreieck Bad Düben, Delitzsch, Bitterfeld, abgesehen vom With Full Force, nicht sonderlich viel. Aber der fulminante Auftritt vor wenigen Minuten hat allen Beteiligten sichtlich viel Spaß gemacht. Fans und Band.
»Vor meinem ersten Gig mit ENTOMBED in Ostdeutschland einige Jahre zuvor hatten mir Uffe und Alex schon gesagt, dass gerade hier die Leute ziemlich auf uns abfahren.«

Damit hat Jörgen den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn mitten in die Ära des Mauerfalls platzte eben auch das Fabel-Debüt "Left Hand Path". Und schwedischer Stahl ergoss sich in Leipziger Tieflandbucht, Börde und Uckermark. Umso ärgerlicher, dass gerade hier in einer ENTOMBED-Hochburg der Gig auf dem "Fuck The Commerce" im nur wenige Kilometer entfernten Neiden abgesagt worden war. Was einige Leute ziemlich angepisst hat. Auch Die-hard-Fans.

Jörgen zündet sich eine Kippe an, kratzt sich am Bart und sagt unvermittelt: »Wir haben wieder Mist gebaut, stimmt´s?« Sein Blick ist nun strenger, nachdenklicher. »Ich hoffe, unsere Fans wissen, dass ENTOMBED sie niemals ficken würden. Aber es gibt immer unkontrollierbare Sachen. Wir sind ENTOMBED. Bei uns laufen hin und wieder auch Dinge schief, wir sind nicht perfekt. ENTOMBED kann man nicht planen wie ein Einfamilienhaus.«
Das wäre ja auch noch schöner...

»Wir können wirklich nicht alles kontrollieren, gerade beim Buchen von Konzerten passieren mitunter halt dumme Geschichten. Zwar selten, aber manchmal eben doch. Wir tun dann das, was wir immer tun. Den Fans die Hand reichen und auf der Bühne noch ein bisschen mehr Vollgas geben.«
Und knapp eine Schachtel Zigaretten pro Show wegrauchen.
»Das liebe ich ungemein. Metal spielen mit einer Kippe im Mundwinkel. Das rockt.«
Uffe rockte heute übrigens im Sitzen, weil der Rücken Probleme machte. Das findet der Tieftöner ziemlich schade.
»Uffe und ich stacheln uns auf der Bühne immer an, weil wir immer auf derselben Seite stehen. Wir treten uns manchmal auch in den Arsch, so richtig asozial.«
Schade, dass seine dreckige Lache hier nicht wiedergegeben werden kann. Aber zur neuen Platte passt sie bestens, so viel darf man sagen. Diese heißt "Inferno" und ist quasi selbsterklärend.
»Wenn eine Band so lange zusammen ist, dass sie auf immerhin acht Alben kommt, dann ist ein Inferno irgendwann eben unvermeidlich.«
Inferno am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen. Eine Binsenweisheit aus der Hölle. Und dort kennen sich ENTOMBED bestens aus, denn genau daher kommen sie. Das Grinsen auch.
»Der Motor läuft endlich wieder rund bei uns«, so Sandström. »Wir hatten gewiss schon schlechtere Zeiten als diese. Bei den Probe-Sessions zu "Inferno" war der Spaßfaktor jedenfalls so hoch wie selten zuvor...«
...obwohl "Inferno" alles andere als eine spaßige Platte geworden ist. Im Gegensatz zu "Uprising" und "Morning Star" dominieren viele tödlich-zerrende, doomige Klänge das Szenario. vWerden ENTOMBED auf ihre alten Tage noch mal richtig fies?

»Wir hatten Lust auf Dreck und schräge Akkorde, keine Frage. Als Konzept würde ich es allerdings nicht bezeichnen, dafür sind die Songs dann doch zu spontan entstanden. Wir haben schon lange aufgehört, uns selbst zu analysieren. Wenn man die 30 erreicht und überschritten hat, kann es gefährlich sein, sich selbst und alles, was man tut, wieder und wieder in Frage zu stellen.«
Zu dieser Erkenntnis scheinen die Schweden schon lange gekommen zu sein. Markige Stereotype, die beste Platte der Bandgeschichte aufgenommen zu haben, hört man von ENTOMBED schon lange nicht mehr.

»Ich habe keine Lust, in Kategorien wie "gut" und "schlecht" zu denken. Das wäre, was die Band angeht, auch ziemlich einschränkend. Was soll das bitte schön sein, die beste Platte, die wir je gemacht haben? Ich möchte keinem Fan von uns so eine Aussage zumuten. Jeder hat zwei Ohren und kann sehr leicht selbst entscheiden, welche Phase von ENTOMBED er bevorzugt und was ihm an uns gut gefällt und was nicht.«

"Inferno" wurde in den bekannten Atlantis-Studios aufgenommen, in dem schon Lenny Kravitz und Abba Ringelpietz mit Anfassen gespielt haben. ENTOMBED dieser Aufzählung hinzuzufügen, erscheint einerseits verwunderlich, andererseits auch wieder nicht.
»Ehrlich gesagt ist es mir egal, wer vor uns schon mal da aufgenommen hat. Wir hatten jedenfalls mal wieder Bock auf einen Tapetenwechsel. Man kann nicht all die Jahre immer nach demselben Rezept arbeiten, daran würde man kaputtgehen.«
Atlantis-Produzent Per Gunnerfeldt zählt im Gegensatz zur Gitarristenfraktion Uffe Cederlund und Alex Hellid nicht unbedingt zu Jörgens Favoriten.
»Per ist nicht gerade Doom«, frotzelt das bärtige Gegenüber. »Natürlich hat er Sachen wie The Hives gut produziert, aber mir ist das alles eine Spur zu nett. Daher hatte ich ganz persönlich schon Bedenken, gerade "Inferno" im Atlantis aufzunehmen.«
Nett zu sein, ist nicht das, was der Schwede im Sinn hat. Zumindest nicht im musikalischen Sinne. Die nächste Kippe wird angesteckt, bevor der Glatzkopf nach kurzem Überlegen fortfährt.
»Aber ich bin schon sehr zufrieden mit "Inferno". Besonders der Bass drückt ungemein und ist richtig gut zu hören. Auch der Gitarrensound brutzelt schön. Je lauter, desto besser.«
Wenn Sir Petrov noch markige Texte der Marke ´That´s When I Became A Satanist´ auskotzt, dann rotiert die Turbine auf höchster Drehzahl. Auch wenn diese meist von Gitarrist Cederlund stammen.
»Uffes Texte sind der Hammer. Ich muss gestehen, ich war immer schon eher der Typ, den Texte nie wirklich interessiert haben. Ich bin Musiker, kein Dichter. Was ich zu sagen habe, sage ich mit Tönen. Aber Uffe arbeitet wirklich akribisch an jeder Zeile. Gerade auf "Inferno" befinden sich einige sehr bemerkenswerte Zeilen.«
Zweifelsohne. Denn das Leben schreibt Lieder und Texte. Was sonst?
»Ich mag die Direktheit unserer Texte, auch die Botschaften zwischen den Zeilen, die sich um so besser erschließen, je mehr man zum Kern von ENTOMBED vordringt.«
Bei der Analyse der Band-Ursuppe muss man auch die kleinen Giftpfeile aus Stockholm zu deuten wissen.
»ENTOMBED würden niemals Hammerfall auf der Bühne supporten, das geht einfach nicht.«
Selbst- und Fanschutz sind eben Ehrensache.
»Ich will nicht respektlos erscheinen, aber in so einem Konzert würde ich keinen Sinn sehen. Das ist keine persönliche, sondern eine rein musikalische Entscheidung. ENTOMBED und Hammerfall passen definitiv nicht zusammen.«
Der Naturbursche, aufgewachsen auf der schwedischen Insel Gotland, outet sich zudem als Ostküsten-Patriot.

»Nichts gegen Göteborg, aber die meisten Bands aus dieser Region sind einfach zu nett. Schau dich hier um, Dismember, Unleashed, Grave, Necrophobic, Murder Squad, General Surgery, das ist alles richtig schön dreckig und ungeschliffen. Im Herzen sind die ganzen Jungs, die hier jahrelang in der Szene ackern, beinharte Rock´n´Roller. Ich bin froh, in Stockholm zu wohnen.«
Jörgens Handy klingelt, nach wenigen Sekunden ist der Anrufer abgewimmelt.
»Das war Jensa von Grave, mein allerbester Kumpel. Er muss gespürt haben, dass wir gerade über ihn geredet haben.«
Na ja, haben wir eigentlich noch nicht, aber zur Grave-Reunion könnte man auch das eine oder andere sagen. Der Ex-Grave-Fronter äußert sich diplomatisch:
»Ich war im positiven Sinne überrascht, ehrlich. Allerdings hätten die Songs für meinen Geschmack etwas flotter sein können.«
Eine Rückkehr zu seinen alten Kameraden ist dennoch undenkbar, auch wenn der Terminkalender nicht so üppig gefüllt ist.
»Natürlich ist diese Frage legitim, denn die Leute sehen ja, dass ich im Falle von Krux und The Project Hate durchaus Zeit für Dinge habe, die neben ENTOMBED parallel laufen können. Aber Grave ist für mich einfach abgehakt. Es ist ein Ding aus meiner Jugend, an das ich mich gern erinnere, mehr nicht.«
Die Partys und das Catering sind mittlerweile auch noch ein bisschen heftiger bzw. besser geworden. Zumindest meistens.
»Ich brauche diesen ganzen gesunden Mist nicht, der hier auf Festivals immer aufgefahren wird. Salat, Kamillentee und Biojoghurt? Da muss ich echt lachen. Mir reicht ein Kasten Bier und eine richtig scharfe Pizza.«
Mit finalem Inferno auf dem Klo, wohlgemerkt. Jörgen krallt sich die dritte Flasche Beck´s. Noch 20 Minuten bis zum St.-Vitus-Auftritt.
»Ich versuche mal eben, ob ich noch jemanden aus der Band mit zur Bühne schleifen kann. Die killen mich, wenn ich das nicht wenigstens versucht hätte. Wir sind eine Familie, und bei ENTOMBED passt eben einer auf den anderen auf.«
Tatsächlich wackelt die Herde - wohlgemerkt: komplett! - wenige Minuten später direkt rüber zur Bühne. Peter und Lars-Göran schleppen zusammen einen Kasten Bier, Alex und Jörgen helfen dem humpelnden Uffe, über den Platz zu kommen. Sieht irgendwie skurril und nett aus. Auch ein kleines bisschen nach "Inferno". Aber eher nach dem ganz normalen Wahnsinn. Und das seit 15 Jahren. Respekt.

Volkmar Weber

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